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Wie die Freundschaft mit deinem Nervensystem dir helfen kann, dein allgemeines Wohlbefinden zu steigern

Eines der wichtigsten Dinge, die du für dein Wohlbefinden tun kannst, ist, dich mit deinem Nervensystem zu verbünden. Und so gehts.
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Frau in einem Garten, die an einem blühenden Baum riecht, als Symbol für die Wichtigkeit, sich mit seinem Nervensystem anzufreunden
Foto von Suad Kamardeen auf Unsplash
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Wie die Freundschaft mit deinem Nervensystem dir helfen kann, dein allgemeines Wohlbefinden zu steigern

Es gibt ein raffiniertes kleines System, das direkt unterhalb deines Bewusstseins arbeitet und dessen einziger Zweck es ist, dich am Leben zu erhalten, während du dein Leben weiterführst. Wie wunderbar ist das? Es handelt sich um die komplexe und wichtige Rolle deines autonomen Nervensystems. Dieses System, das deine Körperfunktionen reguliert, ist auch dein primärer Schutzmechanismus, denn es steuert deine Kampf-oder-Flucht-Reaktion, oder anders gesagt, deine Stressreaktionen.

Indem du deinen Emotionen und Körperempfindungen Aufmerksamkeit schenkst und sie verfolgst, kannst du dich langsam der Aktivierung Deines Schutzmechanismus bewusst werden und so die notwendigen Schritte unternehmen, um für dich selbst zu sorgen und wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Die Stressreaktionen

Die drei bekanntesten Abwehrmechanismen des Nervensystems gegen Stress sind:

  • Kämpfen
  • Flucht
  • Hemmung und Ruhigstellung (erstarren)

In Wirklichkeit gibt es auch subtilere Reaktionen:

  • Erfreuen, gefallen und beruhigen (anpassen)
  • Kollabieren und unterwerfen
  • Anhängen und um Hilfe rufen

Nach stressigen oder traumatischen Situationen schützt sich unser Nervensystem, indem es eine dieser Reaktionen einsetzt. Du kannst dich wahrscheinlich an eine Zeit erinnern, in der du unbewusst eine dieser Strategien angewendet hast. Glückwunsch, dein Schutzsystem funktioniert wunderbar!

Die Kehrseite dieses Mechanismus ist, dass wir in diesen Zuständen «stecken bleiben» können, wenn unser Nervensystem nicht in der Lage ist, sich selbst zu regulieren und zu regenerieren, und dies kann sich auf unsere Lebensqualität auswirken: Schlafstörungen oder ein gereizter Darm, wenn wir zum Beispiel hypererregt sind oder am anderen Ende des Spektrums das Gefühl, lethargisch und isoliert zu sein, wenn unsere Physiologie im Hypoarousal stecken bleibt.

Sich auf einen Moment der Verbundenheit mit Freunden einzulassen, sich eine gesunde, nahrhafte Mahlzeit zu kochen oder sich an eine Fitnessroutine zu halten, kann zu einer zunehmenden Herausforderung werden, wenn unser Nervensystem sich im totalen Schutzmodus befindet. Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, müssen wir uns zunächst wieder mit unserem Körper verbinden und ein Gefühl der Sicherheit entwickeln. 

Gefahr versus Sicherheit

Die Neurowahrnehmung ist der unterbewusste Sinn, der ständig unsere Umgebung abtastet, um Stressoren (Gefahren und Bedrohungen) und Sicherheitshinweise zu erkennen. Dieser Sinn informiert unser Nervensystem, indem er unsere innere Welt, unsere äussere Umgebung und unser Beziehungsumfeld scannt, um festzustellen, ob wir in Gefahr oder in Sicherheit sind. Unser Gehirn empfängt dann diese Informationen und baut eine Geschichte auf, um sie zu verarbeiten. Wie du dir vorstellen kannst, sind diese Geschichten nicht immer zutreffend, was ein weiterer Grund ist, warum es wichtig ist, direkt auf der Ebene des Nervensystems zu arbeiten. Je stärker wir mit unseren Körperempfindungen verbunden sind, desto geringer ist das Risiko, dass unser Gehirn die empfangenen Signale falsch interpretiert. 

Laut Janae Elisabeth, Forscherin und Verfechterin der Neurodiversität, gehören zu den häufigen Hinweisen auf Gefahr und Sicherheit: 

  • Innere Gefahrenhinweise: Schmerz, negativer innerer Dialog
  • Innere Sicherheit: Freude, positiver innerer Dialog
  • Externe Gefahrenhinweise: systemische Unterdrückung, extremes Wetter, unsichere Wohnverhältnisse
  • Externe Sicherheitshinweise: körperliche Autonomie, Gleichberechtigung, Ernährungssicherheit
  • Gefahrenhinweise in der Beziehung: Gaslighting, Einsamkeit, Demütigung
  • Sicherheit in der Beziehung: Akzeptanz, emotionale Bestätigung, Gegenseitigkeit

Unsere Neurowahrnehmung wird auch als Reaktion auf Situationen und Dynamiken aktiviert, die Erinnerungen an die Vergangenheit wecken. Das heisst, ein kleines Ereignis kann heute eine stressige oder traumatische Situation aus der Vergangenheit wachrufen, die unser Nervensystem aktiviert. Dieses reagiert dann intensiver als nötig.

Die autonome Leiter

Leiter vor einer bunten Wand mit Baum
Foto von Frank Eiffert auf Unsplash

Die drei wichtigsten Stressreaktionen können auch als symbolische Leiter dargestellt werden, wie sie von der Medizinerin, Beraterin, Autorin und Sprecherin Deb Dana** geprägt wurde:

Sprosse 3: Sicher und sozial engagiert (Freund)
Sprosse 2: Kampf oder Flucht
Sprosse 1: Erstarren

Wenn unsere Neurowahrnehmung eine Gefahr oder Bedrohung erkennt, wird unser Schutzmechanismus aktiviert, und unsere Physiologie rutscht diese Leiter hinunter. Je nach Stressor und je nachdem, wie lange wir dem ausgesetzt sind, was wir als Bedrohung oder Gefahr wahrnehmen, rutschen wir die autonome Leiter mehr oder weniger schnell (und tief) hinunter. Dies geschieht alles unbewusst. Wir können unser Nervensystem nicht dazu bringen, das Abrutschen zu vermeiden, und wir können es auch nicht dazu bringen, die Leiter hinaufzuklettern.

Um die Leiter Sprosse für Sprosse wieder nach oben zu klettern, müssen wir den Stresszyklus abschliessen und uns selbst regulieren (durch Selbst- oder Ko-Regulierung).

Die gute Nachricht ist, dass unser Nervensystem flexibel ist. Wenn wir also lernen, uns Schritt für Schritt hochzuarbeiten, steigt unsere Fähigkeit, Stress zu erleben und abzubauen. Nach und nach lockern die Stressauslöser ihren Griff. Nach und nach werden die traumatischen Erinnerungen, die in unserem Körper gespeichert sind, losgelassen.

In dem Masse, wie wir uns der Auslöser bewusst werden, die uns veranlassen, die Leiter hinunterzurutschen und beginnen, die Werkzeuge, Praktiken und Menschen zu erkennen, die uns helfen, die Leiter hinaufzusteigen, werden wir mehr und mehr in die Lage versetzt, uns in der verkörperten Sicherheit zu verankern.

Regulierung und Sicherheit in der Praxis

Wahrscheinlich hast du bereits Ressourcen, die du täglich oder wöchentlich zur Stressbewältigung nutzt. Bewegung und Sport zum Beispiel sind perfekt, um den Stresskreislauf zu schliessen, ebenso wie künstlerisches Schaffen, der Kontakt zu deinen Lieben oder das Streicheln deiner Katze.

Allerdings reicht es manchmal nicht aus, sich mit den Stressoren zu befassen und den Stresszyklus zu beenden. Oft müssen wir über die Stressbewältigung hinausgehen: Wir müssen aktuelle und vergangene Stressereignisse verarbeiten und integrieren, um unsere Fähigkeit zu verbessern, mit intensiven Empfindungen (ob positiv oder negativ) umzugehen, um dauerhafte Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern. Dazu müssen wir uns mit unserer inneren Landschaft vertraut machen und ein Gefühl der Sicherheit in uns kultivieren.

Um dich mit deinem Nervensystem anzufreunden, musst du dich mit seiner Sprache vertraut machen: Emotionen, Gefühle, Empfindungen und innere Dialoge. Die Anwendung der RAIN-Methode, einer von der Meditationslehrerin, Psychologin und Autorin Tara Brach entwickelten Achtsamkeitstechnik, ist ein guter Anfang, um diese neue Sprache zu lernen.

Diese Übung wurde von der australischen Physiotherapeutin Jessica Maguire speziell für die Arbeit mit dem Nervensystem angepasst und ist ein einfach umzusetzendes Instrument zur Selbstregulierung.

RAIN steht für Erkennen, Zulassen, Erforschen und Nähren (auf Englisch recognize, allow, investigate and nurture). 

ErkennenBeginne mit der Empfindung, was spürst du in deinem Körper?
Zulassen
: Keine Verstellung, ein aufrichtiges «so läuft es gerade» ohne Wertung.
Erforschen
: Was glaube ich? Was braucht dieser Ort/dieser Teil von mir/meinem Nervensystem?
Nähren: Gebe diesem Ort/Teil von dir, das was es braucht.

Um deinen Werkzeugkasten zur Regulierung zu erweitern, lade ich dich ein, darüber nachzudenken, wen, was, wo und wann du dich in Sicherheit verankert fühlst. Diese Übung wird die Ressourcen hervorheben, die du zur Selbst- und Co-Regulierung nutzen können, wenn du spürst, dass du die autonome Leiter hinuntergegangen bist.

Wer gibt mir das Gefühl, sicher und willkommen zu sein (das kann z. B. auch ein Haustier oder eine Pflanze sein)?
Welche
Aktivitäten oder Handlungen nähren mich oder geben mir ein Gefühl der Verbundenheit?
Wo
 – welche physischen Orte in meiner Umgebung und meiner Welt geben mir Sicherheit?
Wann
habe ich mich in Sicherheit verankert gefühlt?

Eine wirksame Übung zur Stressbewältigung und zur Förderung des Wohlbefindens ist die Verbindung mit dem Atem, wie sie in diesem Artikel von Simone Fuhrmann, ebenfalls TAKINOA Mitwirkende , beschrieben wird .

Aktion

Die Zusammenarbeit in kollektiver Intelligenz mit deinem Nervensystem beflügelt. Je vertrauter du mit deinem Nervensystem wirst, desto mehr erkennst du deine Auslöser und Reaktionen, und desto mehr kannst du lernen, dich selbst zu regulieren und die Geschichte deines Lebens zu verändern.

Wenn du dich in den nächsten Tagen «nicht ganz du selbst» fühlst, wenn du verärgert bist oder gereizt bist oder wenn deine Energie niedrig ist, nimm dir die Zeit, dich mit deinem Nervensystem zu verbinden, um herauszufinden, welche Schutzreaktion aktiviert ist, und wende die RAIN-Methode an, um dir selbst zu helfen. Gehe es langsam an und geniesse die Fahrt. Viel Spass beim Üben!


**Deb Dana, Polyvagal exercices for safety and connection, 50 client-centered practices, 2020

Originalsprache: Englisch

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